Gedichte
Ein erstes politisches Gedicht als Ausdruck meiner großen Betroffenheit - für meinen Vater
(Er schrieb viele derartige Gedichte)

1
Eisig weht der Wind in der fernen arktischen Einsamkeit.
Meine Sprachlosigkeit so lange schon im Tränenmeer.
In mir die Gedankenflut…
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Das Gefühl der Einsamkeit war Ziel des Systems.
Isoliert von der Außenwelt wurde dein Kommunikationsweg versperrt.
Dein mediales Rückgrat gekonnt gebrochen.
Du hast damit deine Einflussnahme als Hoffnungsträger für all die Stimmlosen verloren –
im Gulag – sagt dir das was?
Mörderisch dieses System sibirischer Arbeitslager.
Willkürliche Härte hier das Koloniegesetz mit langer Tradition.
Jahrzehntelang so die physisch-psychische Erträglichkeit bis an die Grenzen gebracht.
In Stalins Hochzeiten auf diese Weise 2 Millionen Menschen zu Tode gemacht.
Doch sein Geist hat überlebt – Säuberungen noch immer im 21. Jahrhundert.
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Trotz Folter und Schikanen - stark blieb dein Überlebenswille für die Sache bis zum Ende.
Groß deine zähe Beharrlichkeit – an deinem Sarkasmus und dir haben sie sich die Zähne ausgebissen.
Tag für Tag in der kalten Leere deiner Minizelle bist du deinen Zen-Pfad gegangen –
dein Gelassenheitsversuch in der Schwere der Einsamkeit.
Deine Popularität und Bidens Drohgebärden sollten doch dein Überleben sichern -
daran hatte ich so festgeglaubt – dem haben wohl viele vertraut.
Zusammenbruch von dir?! Einfach völlig unmöglich!
Fakenews absolut sicher – denn wo nur war dein Leichnam?
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Doch das Unvorstellbare wurde zur unfassbaren Wahrheit –
der „Polarwolf“ war deine Totenstätte.
Diese Unterart des Wolfs ein Synonym für eine menschenverachtende Strafkolonie.
Verkannte dabei dieser Name nicht die extreme Anpassungsfähigkeit der Tiere an die arktischen Widrigkeiten?
Nein, denn arktische Wölfe überleben zwar bis -50 Grad, doch haben sie im Gegensatz zu ihren Artverwandten nur die Halbzeit derer Lebenserwartung.​​​
2
Keine zwei Monate hast du diese arktische Grausamkeit trotz festen Willens überlebt.
Die Schockspirale in diesen Zeiten erscheint mir grenzenlos.
Meinen Glauben an die Menschlichkeit lasse ich immer mehr los.
Im Rückblick…Wer sich mit dem Kreml anlegt lebt gefährlich –
das ist allgegenwärtig!
Mit Zuckerbrot und Peitsche konditioniert man Oligarchen.
Reiche Ölgiganten als Kritiker werden gekonnt medial vorgeführt -
Alptraum-Käfig Inszenierung funktioniert zur Machtdemonstration und Abschreckung.
Wagner Söldner im riskanten Vormarsch in Richtung Kreml – wie undenkbar!
Ihr Aufstand stoppte nur 200 km vor Moskau – globale Atemstarre!
Man gibt sich großmütig – vermeintliche Straffreiheit trotz „Russlandverrats“.
Der Weg führte in die Exilarme des belarussischen Marionettenstaats.
Doch nach zwei Monaten folgte die Abrechnung - ein Jet inmitten meterhoher Feuerschwaden.
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Du gegen Goliath hast dabei deine Ängste bezwungen
– unerschütterlich hieltst du an diesem ungleichen Kampf fest.
Hast du tief in dir wirklich an deinen Sieg geglaubt?
Was hat dich getragen bei all den systematischen Schikanen?
Wie konntest du all die versperrten Wege zum Erfolg im Wahlkampf bloß ertragen?
Wie hieltst du all diese politisch motivierten Staatsverurteilungen aus?
Stark blieb dein Kampfgeist einfach weiterhin ungebrochen.
Nur knapp dem Tod einst von der Schippe gesprungen, kehrtest du in deine Heimat zurück –
im Exil wolltest du deine Glaubwürdigkeit nicht verlieren.
Doch man machte dir sofort klar: Eine Zukunft für dich gibt es im eigenen Land nicht.
In den Gesprächen zum Gefangenenaustausch wurdest du Zug um Zug benutzt als Spielfigur – auf dem dämonischen Schachbrett ein strategisches Machtspiel.
Schachmatt! Geopfert wurdest du im letzten Zug, denn jedem sollte ganz klar gemacht werden – gespielt wird nur nach den Kremlregeln.
Ein Menschenleben so bedeutungslos – einfach ausgespielt und Schluss!
Wie du dein Schicksal nur ertrugst!
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3
Es trifft mich so, denn nah mir dein Wunsch nach Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie.
Verständlich mir deine Rebellion gegen Autokratie mit Freiheitsbeschränkungen und aufgezwungenen fremden Willen, Kontrolle, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen.
Und die Welt? Warum nur schaut sie so machtlos zu?
Bei all den Geschehnissen gegen die Menschlichkeit wird kein Verantwortlicher ernsthaft zur Rechenschaft gezogen –
Bidens angedrohte Konsequenzen bei Todesfolge nur leere Worthülsen.
Nur politische Symbolik als Reaktion - also wieder nur neue Sanktionen.
Machthungrige Länder gewinnen neues Staatenselbstbewusstsein in Verkehrung der gewohnten Weltordnung.
Deshalb vermeidet man einfach besser weitere Eskalationsspiralen.
Wo nur bleibt die erlösende Lösung? Nur Fragen ohne Antworten.
Die vierte Wiederwahl im Kreml - fast dynastische Verhältnisse wie in Kambodscha.
Doch Herrschaften vergehen – irgendwann garantiert durch ein Naturgesetz:
„Alle Menschen sind sterblich“! Noch nie zuvor habe ich das so als hoffnungsvoll gesehen.
Das einstige Schmelzen der politischen Eiszeit mit Glasnost und Perestroika in Aufhebung der „Breschnew-Doktrin“ könnte eines Tages Gorbatschows Vermächtnis doch noch einlösen.
Du warst überzeugt „wer Wahrheit und Gerechtigkeit hinter sich hat wird siegen“ – hast Mut und Leben dafür gegeben.
Deshalb frei soll dein Russland einmal werden im Frieden.
Wie vergessen in den Weiten Nordrusslands gingst du deinen letzten Weg ganz allein – das wie bleibt wohl immer geheim.
Isoliert im Verborgenem – dort hast du deinen langen, zähen Kampf am Ende verloren.
Hoffnung, Nichtwahrhabenwollen, Hilflosigkeit, Ohnmacht und Fassungslosigkeit folgten - meine unendliche Traurigkeit bleibt.
Meine Sprache habe ich zurückgewonnen –
doch die Tränen sind so schnell nicht verronnen.
Eisig weht der Wind – unberührt - in der fernen arktischen Einsamkeit.*
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* Ich habe ein fast identisches Anfangs- und Schlussbild gewählt - ein bewusstes Rahmenelement - nur mit einem kleine Unterschied. Ein leises Ende mit großer Aussagekraft für mich: Ein einsamer, unbedeutender Tod eines mutigen Menschen im arktischen Umfeld. Es zeigt im Allgemeinen eine gleichgültige, kalte Welt wie die Natur.
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Zur Entstehung des Gedichts
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Viele Jahre habe ich das Leben Navalnys medial verfolgt. Hierdurch wurde mir seine Person sehr vertraut. Seinen Tod habe ich nebenbei - verspätet - erfahren. Ein unfassbarer Schock! Diese Tatsache hat mich intensiv beschäftigt. Für meine lange gedankliche Verarbeitung half mir das Gedicht. In diesem Prozess, der Wochen dauerte, ging ich sehr strukturiert an das Schreiben heran und erlebte, wie sich das Gedicht aus einer Unmenge an Gedankenfragmenten nach und nach aufbaute. Und wie oft ich es abermals überarbeitete, um irgendwie einen Rhythmus zu erhalten. Eine für mich so spannende und interessante neue Schreiberfahrung.
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Dieses Gedicht als innerer Monolog - ein Nachruf, mein erstes politisches Statement.
Geleitet von meiner persönlichen Betroffenheit, aber auch vom politischen Bewusstsein. Ich wollte dabei etwas Eigenständiges schaffen. Im eigenen Stil versuchte ich sprachlich kraftvoll die Balance zu finden zwischen Klage, Anklage und Reflexion. Informationen werden hierbei zu Emotionen. Dabei ist die Länge der Schwere und Vielschichtigkeit des Themas geschuldet.
Ist dieses Werk ein Gedicht? Ja! Nur eine andere lyrische Form - eine moderne, politische Lyrik mit dokumentarischer Tiefe. Fern einer traditionellen Lyrikvorstellung mit ihrer (romantischen) Reimpoesie.


Einem Bekannten und Autor gab ich das Gedicht zu lesen und er gab mir eine herausfordernde und inspirierende Schreibaufgabe:​
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Wie wäre es das Gedicht noch einmal, aber in der klassischen Lyrikauffassung zu schreiben. Dabei den "Polarwolf" für Nawalny als starke Metapher einzusetzen. Ich war begeistert von dieser Idee. Dieses Tier als Synonym für ihn. Ein so kraftvolles Bild mit viel Potential für ein eigenes Gedicht, das ich nun poetisch-symbolisch sprechen lasse...
Polarwolf
(für A. N.)
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Eng stehen die Bäume
in der sibirischen Kälte zusammen.
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Endlose Einsamkeit:
Eis unter den Pfoten,
arktischer Wind im Fell.
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Im Weiß:
Spuren eines Wolfs –
ohne Rudel,
in eine Richtung.
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Dorthin,
wo Schweigen schneit,
wo Schnee sich sanft
auf Stacheldraht legt,
aber nicht fragt.
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An diesem Ort,
wo Hoffnung erfriert.
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Sein Fell:
gestreift von Gitterschatten.
Sein Wesen:
zäh –
der Kälte angepasst.
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In der Enge:
rastloses Auf und Ab.
Getrieben –
der Kampfgeist in den Augen,
doch in ihnen
spiegelt sich
kein Fensterlicht.
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Sein kraftvoller Körper
allmählich zerbricht.
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Der Widerstand
aber noch nicht.
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Geduld.
Ausharren.
Durchhalten…
überleben.
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Was ist stärker:
sein Wille –
oder sein Schmerz?
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Der Wintersturm
zerschneidet die Sicht.
In Schneefeldern
verloren.
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Sein Weg:
allein.
Einsames Knacken auf Eis –
ein Heulen,
schwach
und leis.
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Sein letzter Atemzug
entlässt
die Sehnsucht
nach Freiheit.
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Am Morgen –
er ist fort.
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Verweht sind
seine Spuren
im Nirgendwo.
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Nur das Eis bleibt
und der
arktische Wind.
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Eng stehen die Bäume
in der sibirischen Kälte
zusammen –
sie schweigen.
​
Keine Richter.
Nur stumme Zeugen.