

Projekte
Erste Ausstellung:
Literarische Zufallsbegegnungen der besonderen Art
vom 20.1.2025 bis 22.4.2025
ORT: "Bettina-von-Arnim" Bibliothek, Schönhauser Allee 75, 10439 Berlin


Literarische Zufallsbegegnungen -
der besonderen Art
von Raliza Paunowa
„… Es gibt aber solche Zufälle nicht. Wenn der, der etwas notwendig braucht, dies ihm Notwendige findet, so ist es nicht der Zufall, der es ihm gibt, sondern er selbst, sein eigenes Verlangen und Müssen führt ihn hin…“ Hermann Hesse „Demian"
Es gibt bestimmte Konstellationen, die uns eine Begegnung erst ermöglichen. Mich faszinieren solche Zufälligkeiten nicht nur im Leben generell, sondern auch in literarischer Hinsicht. Hast du vielleicht schon einmal ein Buch in die Hände gespielt bekommen infolge bestimmter Umstände, an die du dich heute noch erinnerst? Es gibt diese zufälligen magisch anmutenden Begegnungen mit Büchern, zu denen man thematisch irgendwie schon vorher eine gewisse Verbindung hatte. Lass mich eine Anekdote dazu erzählen. Was glaubst du, wie viele Hotelzimmer es in Singapur gibt? Eine ganze Menge – das stimmt! Und nun kam ich ausgerechnet in eines mit einem einzigen deutschsprachigen Buch im Regal. Es thematisiert die großen Lebensfragen nach dem Sinn, beschäftigt sich mit persönlicher Weiterentwicklung, mit dem Mut, Komfortzonen zu verlassen, Ängste vor dem Ungewissen zu verlieren, Kontrolle loszulassen, das Horchen auf die Intuition und darum, dass man bereit ist für sein Abenteuer, um die eigenen Lebensziele zu verwirklichen. Themen, die mich gerade in dieser Reisezeit beschäftigten. Wie war das möglich, dass ausgerechnet dieses Buch derart passte? Synchronizität?! Ich habe dann verstanden… ich sollte es unbedingt lesen und war fasziniert, auf welche subtile Weise das Universum mit uns kommuniziert. In der Retrospektive haben manche Buchbegegnungen sogar spirituellen Charakter, wie ich am Ende dieser langen Asienreise erkannte. Meine Faszination für solche Buchbegegnungen ließ mich bewusster darauf achten und initiierte meine erste Projektreihe. Sie nimmt Berlin als meine Heimatstadt im engen oder weiteren Sinn zum Thema. Den Auftakt bilden dabei diese vier Geschichten von Menschen, die davon erzählen, wie sie zu ihrem Buch kamen mit der damit verbundenen Bedeutung für das eigene Leben. Vielleicht können diese Geschichten für dich ein Gedankenanstoß sein und in dir Erinnerungen an eine Buchbegegnung der besonderen Art wecken. Vielleicht gelingt es mir, dich zum Innehalten zu bringen, um sich an deine bislang unbeachtete Buchbegegnung zu erinnern. Die Geschichte in Singapur eröffnete mir viele weitere Ideen für Projektreihen mit unterschiedlichem thematischem Fokus wie Sinnsuche, persönliches Wachstum, Heimat, Glück, Erfüllung, Fernweh… Es gibt so viel, wonach wir uns sehnen – manchmal ein Leben lang... Du hast selbst eine derartige Geschichte und den Wunsch diese auch mit anderen zu teilen? Gerne kannst du Kontakt zu mir aufnehmen, um mir deine Geschichte sowohl zur Berlinreihe, wie auch für spätere Themenreihen zu schenken. Du könntest hierdurch mein Ziel unterstützen diese erste Reihe „Berlin in Büchern – Zufallsbegegnungen“ für eine Kalender- oder Buchveröffentlichung zu erweitern.

Am
Falkplatz
hört
man
auf die eigene Seele
von Raliza Paunowa
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Geräuschvoll führte der monströse Kopierer meinen Auftrag aus und stieß schwungvoll Seite für Seite die Arbeitsblätter aus seinem Schlund heraus. Hier in diesem Arbeitsraum für uns Lehrer gönnte ich mir in letzter Zeit diese Warteminuten für ein kurzes Abschweifen der Gedanken oder für einen achtsamen Blick aus dem Fenster des einstigen Lyzeums hier am Falkplatz in Prenzlauer Berg. Das Kopiergerät schwieg. Das Signal, um von dieser entspannten Kurzreise zurückzukehren und alle Arbeitsblätter auf dem danebenstehenden Tisch zu sortieren. Währenddessen fielen meine Augen auf ein bekanntes Buchcover. Sogleich kam die Erinnerung, dass ich diesen Roman schon vor einigen Jahren lesen wollte. Ich war überrascht und dankbar, wieder an „Allerseelen“ erinnert zu werden. Es gibt Titel, die mich ansprechen und sehnsuchtsvolle, unerklärbare Assoziationen in mir wecken. Solche Titel gelangen dann sogleich auf meine Lesewunschliste. „Allerseelen“ meint den Tag im November, an dem man der Seelen der Verstorbenen gedenkt, damit sie schneller dem Fegefeuer entfliehen und in den Himmel gelangen. Warum nun ausgerechnet ein solcher Titel? Herausgerissen aus diesen Gedanken durch die Schulglocke, nahm ich den Packen Arbeitsblätter und ging. Das Buch blieb. Viele Wochen lang. Es lag verwaist noch immer auf diesem Tisch. Sicherlich vermisst und gesucht von irgendjemanden. Vielleicht zurückgelassen und vergessen? Irgendwann kam eine schöne Vorstellung auf: Es könnte für mich bestimmt sein, denn mittlerweile wartete es schon ziemlich lange. Also wurde es meins und nahm mich mit in den kalten Berliner Winter der späten neunziger Jahre, zog mich in die Melancholie der frühen Dämmerung, ins düstere Grau dieser Jahreszeit in der Stadt. Eine Stimmung im Außen, die sich in die Innenwelt des Protagonisten Arthur Daane, ein niederländischer Dokumentarfilmer, gräbt. In der deutschen Hauptstadt – seine Wahlheimat und geheime Liebe – spürt er die Weite des Ostens. In der Retrospektive erweiterte der Titel seinen Bedeutungsgehalt zu „Aller Seelen“. Also erinnere dich auch deiner eigenen Seele! Deshalb lausche aufmerksam ihrem Flüstern! Was wünscht sie sich wirklich? Wohin fliegt ihre Sehnsucht? Meine Seele verdeutlichte ihren Wunsch zu dieser Zeit sehr nachdrücklich, nicht erst im Himmel, sondern bereits im Hier und Jetzt ihre Erfüllung finden zu wollen. Spürt man die Zeit, wenn neue Wege auf einen warten? Selten zuvor war meine Entscheidung so klar: Nach vielen Jahren wollte ich diesen Arbeitsort verlassen, mir eine Auszeit nehmen und mich danach beruflich neu orientieren. Damit vertraute ich mich mutig dem Lebensabenteuer an und verließ weniger sorgenvoll die Komfortzone. Dabei erinnerte ich mich häufig an die „Stufen“-Gedanken im Hesse-Gedicht. Startklar für diesen Aus- und Aufbruch war ich durch einen gut funktionierenden Kompass – meine Intuition. Diese schickte mich mit scharfer Rechtsdrehung in Richtung Osten. Auf dem Weg dorthin erlebte ich eine subtile Vorfreude auf diesen ungewissen „Zauber des Anfangs“. Die Sehnsucht meiner Seele zog es zunächst für eine längere Zeit nach Asien, zu den vielen Tempeln mit ihren intensiven Aromen inmitten der Rauchschwaden – Räucherstäbchen erzählen dort unzählige Geschichten vom Loslassen. Auch Arthur Daane’s Weg führt zwischenzeitlich weg von Berlin. Weit in den Westen Spaniens, nach Santiago de Compostela. Doch kurz bevor er seine Richtung dorthin an einer Straßenabzweigung wechseln muss, zögert er und entschließt sich für einen anderen Weg, den nach Norden. Angezogen vielleicht von seinem Sehnsuchtsort - Berlin - weit hinter den Pyrenäen. Spürt man, wenn es Zeit ist, die Wegrichtung zu ändern? Arthur Daane arbeitet an einem eigenen Filmprojekt – eine Sammlung erst unscheinbarer und unabhängig wirkender Fragmente von Szenen, die er später zu einem großen Ganzen zusammensetzt. Eine Arbeit, die ihn offensichtlich erfüllt. Nach meiner Rückkehr aus Asien habe ich fragmentarische Anekdoten geschrieben als erzählende Meditation über die Rätselhaftigkeit unseres Daseins. Heute sehe ich hierin ein wenig eine Parallele zu seiner Projektidee. „Allerseelen“ war eine ganz spezielle – da nachhaltige - Buchbegegnung für mich. Wie die Verstorbenen auf ihren Allerseelen-Tag warten, brauchte es wohl eine Wartezeit bis zur Begegnung mit diesem Buch, die mir ein Aufgreifen einer früheren Projektidee ermöglichte. Ich hatte viele Jahre zuvor das Ziel, einen Berlin-Literaturkalender zu gestalten. Diese aber auf Grund meiner Desillusionierung angesichts der Vielfalt derartiger Kalender aufgegeben. „Allerseelen“ brachte mich auf eine kleine Änderung des ursprünglichen Gedankens und initiierte die Idee eines Kalenders über Bücher, die im Zusammenhang mit Berlin stehen. Und über Buchbegegnungen, die man anfangs gar nicht als besonders erachtet und die dabei eigentlich alles andere als „Allergewöhnlich“ sind. Damit wurde meine Projektbegeisterung wieder entzündet. Meine Leidenschaft für die Literatur, das Schreiben und für die Geschichten unseres Lebens konnte sich neu entfalten. Es ist Ende Februar. Nach diesem letzten Satz meiner nun fertigen Geschichte blicke ich durch das Fenster des Cafés auf die Dahme in Alt-Köpenick. Mir kommt plötzlich ein Zitat auf einem Tankstellen-WC in Bulgarien im letzten Sommer in den Sinn: „Wenn es keinen Weg nach Westen gibt, geh lieber nach Osten. Die Erde ist rund und früher oder später kommt jeder dort an, wo er hin muss.“ Elchin Safarli Auf deiner Sehnsuchtsreise ist es entscheidend, dass du intuitiv deine Wegrichtung kennst, um letztlich an dein Ziel zu kommen. Du setzt den ersten Schritt und gehst endlich los. Unsere Intuition ist ein wertvoller Kompass, wenn man seine Orientierung, die Richtung verliert oder auf eine Weggabelung trifft. Die Seelen(Selbst)liebe zu finden und zu leben, ergibt sich von ganz allein, wenn man der Intuition vertraut. Die pure Freude meiner Seele beim Lesen des Zitats malte mir spontan ein Lächeln auf das Gesicht.

Lindenblütentee &
Berlin für die Selbstliebe
nach Lea H.
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Ein riesiger Haufen von Baumästen verteilte sich auf dem Boden. Daneben sitzend hielt ich einen Zweig nach oben, um die hierdurch herunterhängenden Lindenblüten besser abpflücken zu können. Im Sommer war für meine Verwandten, Nachbarn und mich Erntezeit in Emos, einem kleinen Dorf in Ostbulgarien. Man traf sich dazu wegen der sengenden Hitze am späten Nachmittag, aber mehr noch für unseren sozialen Zusammenhalt, und dabei wurden alte traditionelle Lieder gesungen. Am Ende des Tages nahm ich unzählige Blüten zur Gesundheitsunterstützung in der Winterzeit mit nach Hause. Im Cahi, einem Baumwollsäckchen, trug ich sie ins Zimmer. Auf einem ausgebreiteten Tuch waren sie bereit zum Trocknen für den späteren Tee in der kalten Jahreszeit. „Oh ja, ich kann mich gerade sehr gut an diesen lieblichen Blütenduft und wie diese Süße das ganze Haus vereinnahmte, erinnern.“ Mit dem Beginn der Dämmerung war an diesem trüben Märzwinterabend 2010 die Kühle auf der Straße „Unter den Linden“ noch sehr zu spüren. Ich schaute nach oben und dachte, wie kahl die Äste dieser Heilpflanzen noch sind. Aber ich nahm auch deren bereits groß gewachsene Knospen wahr, die längst ihre Kräfte sammelten für ihren baldigen Ausbruch. Lebendig erschienen mir die Bilder meiner Ernteerinnerungen, und damit kam die Sehnsucht nach meiner alten Heimat. Berlin war die letzte Hoffnung bei der Schwere meiner Krankheit, denn Bulgarien fehlte noch die hier angebotene Therapieform. Ich war genesen – was für ein Glück – und Berlin meine Wahlheimat geworden. Überrascht von meiner Entdeckung, greife ich in das Buchregal. Tatsächlich – ich habe mich nicht geirrt – „Unter den Linden“ der Titel. Das einzige deutsche Buch. Erstaunt sinke ich mit ihm in den Sessel des Spa-Hotels am Schwarzen Meer. Meine Reise hierher viele Jahre später ist mein Geburtstagsgeschenk für das ganzheitliche Glück. Ich blättere im Buch zögerlich ein paar Seiten um. Was für eine symbolische Buchfindung. Ein Liebesroman also macht mir gerade erneut die Selbstliebe bewusst und eine Heilpflanze als Brücke zu meiner alten und neuen Heimat. „Berlin hat mir das Leben gerettet!“, vernehme ich an meinem Geburtstag eine innere Stimme. Nachdenklich werdend über diesen unglaublichen Buchfund, zieht es mich hinaus zu einem Spaziergang an den Strand meiner alten Heimat.

Berlinentdeckung
im
verstaubten
Dresdner
Bücherchaos
nach Mario P.
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Als gebürtiger Berliner studierte ich ein paar Jahre in Dresden. An einem nebeligen Nachmittag 1986 war ich wieder auf dem Weg zum Kleinen Haus - dem Staatsschauspieltheater – in der Bautzener Straße. Und jedes Mal kam ich am urigen, auf philosophisch historische Literatur spezialisierten Antiquariat mit seinen völlig verstaubten, bis zur Decke hochgewachsenen Holzregalen vorbei. An diesem Herbsttag hatte ich noch etwas Zeit, um mich zwischen den von Tischen und Regalen gehaltenen Büchertürmen treiben zu lassen. Ungezielt und dennoch suchend schweifte mein Blick entlang der Bücherunordnung, ab und an verweilte mein Auge und traf auf den Titel „Die Geschichte Berlins“. Was für eine freudvolle Zufallsbegegnung mit meiner Heimatstadt hier in der Dresdner Neustadt. Ich zog das kleine Büchlein unter seiner schweren Stapellast heraus. Als Geschichtsbegeisteter war ich über diese Entdeckung natürlich hocherfreut. Damals bedeutete allerdings jeder Buchkauf auch, mich gleichzeitig beim Lebensmittelkauf stark einzuschränken. Jedes Mal wieder entschied ich mich für die anschließenden Rationierungen meines Essens. Mit einer gewissen Vorfreude auf die Lektüre verließ ich meinen Bücherhimmel. Ich setzte meinen Weg zur Theatergarderobe fort, zu meiner Pauschalarbeit, wie man in der DDR-Zeit zu Aushilfsjobs sagte. Mit dem erhabenen Theatergong aus der Ferne vernahm ich den Vorstellungsbeginn, und damit begann zeitgleich meine historische Reise nach Berlin, gedankenversunken zwischen all den dichten Reihen von feinen Mänteln mit diversen Düften und Taschen. Heute wieder in Berlin lebend, erinnere ich mich manchmal bei Buchkäufen mit einem Lächeln an meine Geistesnahrung während dieser Dresdner Hungerjahre.

Alte
Berlinliebe
entflammt
auf
der
Hausflurtreppe
nach Attila Sch.
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„Ich mag die alte Zeit von Berlin sehr, vor allem architektonisch“, erfuhr meine alte Nachbarin von mir. Häufig tauschten wir uns darüber aus, wenn wir uns zufällig wieder in unserem Haus an der Zionskirche trafen. Im ansonsten stillen Treppenhaus vernahm man deutlich unsere Stimmen von irgendwo oben kommend, und eine Faszination vom alten Berlin schwang Stufe für Stufe hinab. Die alte Frau erzählte mir von ihrem längst verstorbenen Lebensgefährten, einem Buchhändler mit seinem Laden unter den S -Bahnbögen der Friedrichstraße zu DDR-Zeiten. Viele Bücher hatte sie aufgehoben. Eines Tages führte mich meine historische Begeisterung geradewegs in ihre Wohnung, begleitet von ihren Worten: „Na dann komm Se mal rinn. Ick jib Ihn mal een Buch. Ick glob, dit is dit Richtje.“ Und dann drückte sie mir den „Rosen-Emil“ in die Hand. Bereits im Treppenflur ließ mich meine große Neugierde in den Seiten des sehr alten Exemplars blättern. Man merkte, dass sein Autor Georg Hermann viel über das Leben nachgedacht hatte, was mich sehr beeindruckte. Aus dieser alten Liebesgeschichte zwischen Zionskirchplatz, Christinen- und Torstraße wurde eine aktuelle des 21. Jahrhunderts für mich. Irgendwann später schwärmte ich meiner Nachbarin davon vor, war so beseelt von ihrer Empfehlung und ihr sehr dankbar, durch sie dieses Werk entdeckt zu haben. Worauf sie dann erwiderte: „Wenn‘s Ihn so vülle Freude macht, dann schenk ick’s Ihn“. Dieser Roman war schnell gelesen, und seitdem liebe ich diesen Autor. Jedes Mal, wenn ich das Buch meiner verstorbenen Nachbarin in die Hand nehme, denke ich an sie und an unsere verbindenden Treppenhausbegegnungen. Damit bleibt sie so ewig in meiner Erinnerung.